"Wie läuft eigentlich so eine Sitzung bei Ihnen ab?", werde ich immer wieder im Erstgespräch gefragt. Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Denn in einer gestalttherapeutischen Sitzung wird nicht nach einem bestimmten Plan gearbeitet. Jede Sitzung ist ein individueller Prozess, der sich vor allem daran orientiert, was im Hier und Jetzt in den Vordergrund rückt. Was ich damit meine, zeige ich dir in diesem Fallbeispiel. Also schaue mir hier gern einmal bei der Arbeit über die Schulter.
Meine Sitzungen beginne ich oft mit der Frage nach der Befindlichkeit meiner Klient*innen. Ich höre dann aber nicht nur auf den Inhalt, sondern achte vor allem darauf, wie mir etwas erzählt wird, also auf Körperhaltung, Stimme, Mimik, Gestik. Ich unterstütze gleichzeitig meine Klient*innen dabei, ihre Selbstwahrnehmung zu stärken.
Am Anfang dieser Sitzung erzählte mir meine Klientin Katja S., dass es ihr gerade nicht gut gehe. Seit einem Mitarbeitergespräch mit ihrer Chefin habe sie ein Druckgefühl im Brustkorb, das Katja bereits aus anderen Situationen kennt. Sie war deshalb sogar schon bei ihrer Ärztin und hat sich durchchecken lassen. Da nichts gefunden wurde, ging die Ärztin davon aus, dass das Druckgefühl psychosomatischen Ursprungs sei.
Während Katja mir von ihrem Mitarbeitergespräch erzählt, frage ich sie, ob sie auch jetzt den Druck im Brustkorb fühlen könne. Katja bestätigt meine Vermutung. Ich bitte sie nun, ihre Aufmerksamkeit nach innen auf ihr Druckgefühl zu richten und mir zu beschreiben, was sie spürt. „Der Druck geht über den gesamten Brustkorb“, beschreibt Katja mit geschlossenen Augen ihre Wahrnehmung. Ich frage sie, wie sich die Beschaffenheit des inneren Drucks genau anfühlt: sein Gewicht, seine Oberfläche, seine Temperatur. Auf diese Weise helfe ich Katja, sich ihres Druckgefühls noch deutlicher gewahr zu werden. "Das ist schwer zu sagen. Es fühlt sich irgendwie fest an, wie ein Stein. Der Stein ist unbeweglich und kalt," stellt Katja fest.
Ich gebe nun Katja ein Kissen in die Hand und bitte sie das Kissen genauso zu drücken, wie der Druck dies mit ihrem Brustkorb macht. Katja nimmt das Kissen in beide Hände und drückt es etwas ein. "So ungefähr ist es, nur viel stärker". "Mache es genauso, wie es sich in dir anfühlt“, fordere ich Katja auf. Sie drückt jetzt das Kissen fest zusammen.
"Wenn deine Hände sprechen könnten, was würden sie zu dem Kissen sagen?“, frage ich sie. "Ich mache dich klein", antwortet Katja spontan. "Ich will nicht, dass du so viel Raum einnimmst". Ich frage Katja, welche Emotion sie gerade wahrnimmt. "Ich bin wütend, weil es nicht auf mich hört. Irgendwo kommt ständig wieder eine Ecke hervor." Dabei drückt Katja das Kissen immer wieder kräftig von verschiedenen Seiten ein.
Katja hat jetzt das, was sich in ihrem Inneren abspielt, nach außen gebracht. Dabei haben sich zwei Polaritäten herausgebildet: Eine druckausübende, aggressive Seite und eine passive Seite, die gedrückt wird. Ich bitte Katja nun, sich einmal vorzustellen, dass sie ihrem Druckmacher gegenüberstehen würde. Als „Platzhalter“ lege ich dafür ein anderes Kissen auf den Boden.
Sobald sich Katja auf diese Vorstellung einlässt, verändert sich ihre Körperhaltung. "Spüre mal wie du jetzt stehst“, bitte ich sie. „Meine Schultern gehen vor und mein Kopf runter. Ich mache mich klein, und ich fühle mich ohnmächtig“, antwortet mir Katja. Ich frage sie danach, wie alt sie sich fühlt, wenn sie „klein“ sagt. "Vielleicht 9 oder 10 Jahre“, stellt Katja fest.
Ich biete ihr nun an, mit ihrem inneren Druckmacher Kontakt aufzunehmen und ihm zu sagen, was sie empfindet. „Immer wenn du auftauchst, fühle ich mich klein und ohnmächtig. Du nimmst mir die Luft zum Atmen. Ich habe keinen Raum mehr für mich", antwortet Katja mit leiser Stimme. „Mir fällt gerade meine Großmutter ein. Sie war immer sehr dominant. Die ganze Familie hat nach ihrer Pfeife getanzt. Vor allem meine Mutter. Sie konnte sich ihr gegenüber nie durchsetzen. Meine Großmutter hat mich ständig gemaßregelt. Nichts durfte ich, nichts habe ich richtig gemacht."
Während Katja spricht, beginnt sie mit ihrem rechten Fuß auf und ab zu wippen. Ich bitte sie, sich auf diese Bewegung zu konzentrieren und sie etwas stärker werden zu lassen, damit sie die Qualität der Bewegung deutlicher spüren kann. Dadurch wird Katja bewusst, dass es sich um eine tretende Bewegung handelt.
Ich stelle eine Matte an die Wand und lade Katja ein, dagegen zu treten. Sie setzt sich auf meinen dicken weißen Teppich und drückt mit ihrem rechten Fuß ein paar Mal gegen die Matte. „Was will denn dein Fuß gerade tun, frage ich. "Weglaufen. Ich will einfach weg von ihr, aber ich kann nicht“, antwortet Katja mit gepresster Stimme. „Spüre noch mal genau in deinen Fuß, möchte er wirklich weglaufen oder lieber treten,“ frage ich nach. „Stimmt, er will treten,“ antwortet Katja und ergänzt: „Puh, ich werde gerade richtig wütend auf meine Großmutter. Sie war immer da und hat mich mit ihrer Kontrolle und ihrer Strenge erdrückt, wie der Stein auf meiner Brust. Sie soll weg."
Ich nehme diesen neuen Impuls auf und bitte Katja, dies jetzt auszusprechen, und zwar so, als ob ihre Großmutter im Raum wäre. Während Katja jetzt mit beiden Füßen kraftvoll gegen die Matte tritt, wiederholt sie mehrmals den Satz, "lass´ mich in Ruhe!“ Dann beendet sie das Ganze mit einem letzten entschiedenen Tritt mit ihrem rechten Fuß und sagt dabei laut: „Hau endlich ab aus meinem Leben!“ „Deine Stimme hat sich gerade verändert, kannst du das wahrnehmen“, frage ich Katja. „Ja, meine Stimme ist lauter und fühlt sich kraftvoll an. Ich fühle mich nicht mehr ohnmächtig. Ich kann mich wehren“, stellt Katja erfreut fest.
Katja hat jetzt Zugang zu ihrer eigenen Stärke gefunden, und das möchte ich unterstützen, indem ich sie auffordere, sich hinzustellen und ihren Stand zu spüren. „Ich fühle so ein leichtes, angenehmes Strömen in den Beinen. Ich stehe jetzt ganz fest. Mein Brustkorb fühlt sich wärmer und weiter an und ich kann besser atmen. Es tat gut, meine Wut endlich mal rauszulassen, beschreibt sie ihre Wahrnehmung.
Jetzt bitte ich Katja, sich ganz auf die Wärme in ihrem Brustkorb und ihre Standfestigkeit zu konzentrieren. Ich lasse ihr dafür einige Minuten Zeit, damit sich dieses angenehme Gefühl mehr in ihr ausbreiten kann. "Es ist wieder mehr Raum in meinem Brustkorb und in meinem Körper. Der Stein ist noch nicht ganz weg, aber viel kleiner geworden. Das fühlt sich gut an", sagt Katja lächelnd, nachdem sie ihre Augen wieder geöffnet hat.
Am Ende der Sitzung ordnen wir das Erlebte zusammen ein: Katja ist bewusst geworden, dass ihr innerer kalter Stein Ausdruck ihrer unterdrückten Wut gegenüber Autoritätspersonen ist. Der Ursprung dieser Wut liegt jedoch in ihren negativen Erfahrungen mit ihrer dominanten Großmutter. Statt ihre aggressiven Impulse zum Ausdruck zu bringen, hatte Katja früh lernen müssen, ihre Wut runterzuschlucken, „kalt“ werden zu lassen und sich anzupassen. In Situationen mit Autoritätspersonen wurde dieses Muster bisher auch in ihrem erwachsenen Leben immer wieder aktualisiert. Katja rutschte in diesen Situationen sofort wieder in die Rolle eines 9-jährigen Mädchens, das sich nicht wehren kann und sich ohnmächtig fühlt.
In der gestalttherapeutischen Sitzung konnte Katja ihre bisher abgelehnten aggressiven Impulse nun erstmals zulassen und im sicheren therapeutischen Rahmen zum Ausdruck bringen. Dies half ihr, ihre Wut als kraftvollen Teil ihrer Persönlichkeit zu integrieren. Diese Erfahrung war für Katja der Grundstein für eine neue Lebenshaltung und ein selbstsicheres Auftreten.
Wie schon zu Beginn gesagt, verlaufen gestalttherapeutische Prozesse sehr unterschiedlich. Es geht jedoch immer darum, die Kontaktfähigkeit zu verbessern, bisher abgelehnten Seiten in die eigene Persönlichkeit zu integrieren und verborgenen Potenziale zu aktivieren.
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